Selbstvermessung bis zur Selbstaufgabe

Ein Kommentar

Blogbeitrag 31. Oktober 2014
auch erschienen auf wissenschaft.de und focus.de.

Bald soll ein schicker Trinkbecher auf den Markt kommen, der unter anderem registriert, wie viel Flüssigkeit, Kalorien und Koffein sein Besitzer zu sich nimmt – Tag für Tag und Monat für Monat. Ein faszinierendes Produkt für Gesundheitsbewusste und Technikverliebte, aber eine Herausforderung für die Gesellschaft.

Es gibt Jogger, Fitnessbewegte und Ernährungsbewusste, die gerne ihre Flüssigkeitsaufnahme langfristig aufzeichnen und mit ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit und ihrem Wohlbefinden in Beziehung setzen möchten. Sie sind erkennbar eine von zwei großen Zielgruppen des Videoclips des US-amerikanischen Start-Up Unternehmens “Mark one”, in dem es für seinen mit Sensoren aufgerüsteten Trinkbecher wirbt.

Die andere Zielgruppe für den Becher, der Anfang 2015 auf den Markt kommen soll, sind junge, vielbeschäftigte und technikbegeisterte Städter. Und zwar diejenigen, die sich morgens im Vorbeigehen Kaffee oder Energy-Drinks kaufen und abends ständig wechselnde Mixgetränke zu sich nehmen, aber trotzdem ihren Konsum sowie die Inhaltsstoffe der Getränke auf einfache Weise kontrollieren möchten. Über eine Smartphone-App lassen sich die registrierten Daten abrufen und gegebenenfalls über soziale Internet-Plattformen teilen.

“Mark one” ist nur ein winziger Akteur mit einer originellen Produktidee auf einem Markt, den auch die Technologie-Riesen fest anvisiert haben: Im September etwa hat Apple seine smarte Uhr vorgestellt, die seinem Träger ein vollständiges Bild der täglichen Bewegungen verspricht. Apple Watch zeichnet beispielsweise Herzschlag, Schrittzahl und verbrannte Kalorien auf – Daten, die via App beispielsweise auch den Arzt alarmieren könnten. Dieses Produkt wiederum ist nicht besonders originell – Fitnessarmbänder und Uhren anderer Hersteller leisten ähnliches –, ist aber wegen Apples Image und Marktmacht trotzdem beachtenswert.
Marcia Nissen vom Karlsruher Institut für Technologie, die in ihrer Bachelor-Arbeit die Motive von Selbstvermessern erkundet und analysiert hat, schreibt als persönliche Schlussbemerkung auf ihrer Webseite: “Was die meisten Selbstvermesser machen, ist nicht verwerflich. Sie quantifizieren und analysieren ihr Leben statistisch durch – weil sie es können, weil es ihnen Spaß macht und weil es ihnen etwas gibt.” Sicher richtig. Solche „Gadgets” anzuwenden, weil es Spaß macht, ist eine mögliche Verhaltensweise. Eine andere ist es, sie zu belächeln.

Nichts ist mehr privat

Spaßverderber zu sein, ist keine schöne Rolle, aber: beide Reaktionen greifen zu kurz. Denn jeder sollte wissen: Wer Trinkbecher oder Smartwatch einsetzt, verschiebt die gesellschaftliche Übereinkunft darüber, was privat ist. Und er gibt ein weiteres Stück von sich ab, begibt sich mehr und mehr in die Hand von Unternehmen und macht sich zum Spielball gesellschaftlicher Zwänge. Denn die Geräte sind eben nicht nur daraufhin konzipiert, herauszufinden, wie der eigene Körper reagiert, oder wie man sein Verhalten ändern kann, um sich körperlich oder psychisch zu optimieren. Sondern sie liefern auch Informationen, für die es ein großes wirtschaftliches Interesse gibt: Sei es, dass Arbeitgeber das Trinkverhalten der Mitarbeiter kontrollieren oder dass Krankenversicherungen ihre Prämien nach dem individuellen Ess- und Bewegungsverhalten taxieren wollen.

Der Einwand, da sei der Datenschutz vor, ist prinzipiell richtig. Allerdings sind die Verlockungen nicht nur für Kriminelle, sondern auch für Unternehmen riesig – und das Rennen zwischen Datensammlern und Datenschützern gleicht dem zwischen Hase und Igel. Viel wichtiger aber: Unternehmen verfügen längst über ein raffiniertes Instrumentarium, damit die Nutzer der Gadgets ihre Daten freiwillig rausgeben – etwa um beim Arzt schneller und besser behandelt zu werden, finanzielle Vorteile eingeräumt zu bekommen oder um sich mit Gleichgesinnten oder Leidensgenossen auszutauschen. Auch wer sich zunächst verweigert, gerät meist irgendwann in einen gesellschaftlichen Sog. Man denke nur daran, wie Dienstleistungen von Banken und Verkehrsbetrieben vor Ort reduziert oder so stark verteuert wurden, dass Smartphone-Apps – trotz Sicherheitsbedenken und Datenhunger – zu einer immer attraktiveren Alternative wurden, der man sich kaum verschließen kann.

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