Materialforschung: Farne als Vorbild

Das Periodensystem der nutzbaren chemischen Elemente ist nicht größer geworden. Doch in der Materialforschung hat ein neues Zeitalter begonnen – auch mithilfe der Natur.

erschienen in bild der wissenschaft plus 1-2015

Thomas Schimmel ist immer für eine Überraschung gut. Wenn der Professor vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) die Bedeutung neuer Materialien verdeutlichen will, so verzichtet er darauf, auf einem Computerbildschirm Animationen von elektrisch angetriebenen Leichtbaukarossen, futuristischen Gebäuden oder gewagten Brückenkonstruktionen zu zeigen. Er präsentiert auch nicht Ausstellungsstücke wie einen Mikrochip oder den Teil einer Turbinenschaufel. Stattdessen greift er zu einem Trinkglas auf seinem Schreibtisch, in dem eine unscheinbare grüne Pflanze schwimmt.
Dabei fragt der Physiker sein Gegenüber: „Was fällt Ihnen als Erstes ein, wenn Sie den Begriff Materialien hören – Stahl, Beton, Aluminium oder andere Konstruktionswerkstoffe?“ Um dann hinzuzufügen: „Dabei vergessen wir oft, dass sich bei den Materialien komplett Neues getan hat.“ Und zeigt auf die Pflanze, die er als Salvinia molesta vorstellt.
Dieser Schwimmfarn hat eine besondere Eigenschaft: Drückt man ihn unter Wasser, so werden seine Blattoberflächen nicht nass. Thomas Schimmel weist auf den silbrigen Glanz auf den untergetauchten Blätter hin, wenn man schräg auf die Pflanze schaut. Hervorgerufen wird der Glanz durch eine dünne Luftschicht auf der Blattoberfläche, an der das Licht spiegelt. Dieses Luftkleid verhindert, dass die Blattoberflächen mit Wasser benetzt werden. Daher tauchen sie auch trocken wieder aus dem Wasser auf. Besonders erstaunlich: Das Luftkleid unter Wasser bleibt wochenlang erhalten.
Salviania molesta breitet sich in den Tropen und Subtropen, aber im Sommer auch bei uns im Gartenteich sehr rasch aus und ist dort auch als Wasserunkraut verrufen. Um zu erklären, wie es die Pflanze schafft, unter Wasser für lange Zeit ein Luftkleid anzulegen, weist Thomas Schimmel auf die feinen Härchen auf der Blattoberfläche hin, die mit bloßem Auge gut zu erkennen sind. Die weiteren Details sind dagegen nur mit Mikroskopen und modernen Analysemethode zu entschlüsseln: Die Härchen haben die Form eines Schneebesens. Die Blattoberflächen samt der Haare sind extrem wasserabweisend – Fachjargon: superhydrophob – und sind dafür mit winzig kleinen Wachskristallen überzogen, die weit kleiner sind als ein Mikrometer (tausendstel Millimeter).
„Wir haben schnell gelernt, solche Oberflächen mit hydrophoben haarförmigen Strukturen nachzubauen“, sagt Schimmel. Sie konnten tatsächlich Luft unter Wasser festhalten. „Aber“, so Schimmel, „leider nur für einige Minuten – danach bildeten sich kleine Bläschen und die Luft war weg.“ Daraufhin untersuchten die Wissenschaftler um Schimmel und den Bonner Botaniker Wilhelm Barthlott die Pflanze noch genauer. Sie stellten fest, dass die Härchen an ihren Spitzen keine Wachskristalle besitzen und dort wasserliebend –hydrophil – sind. Ein geschickter Trick der Natur: Nach wie vor kann beim Eintauchen der Blätter kein Wasser zwischen die Härchen eindringen. Doch die eingeschlossene Luft kann später auch nicht wieder entweichen, weil an der Grenzschicht zwischen Luftkleid und Wasserfilm das Wasser gleichsam an den Haarspitzen klebt. „Die Luft müsste sozusagen viele kleine `Klettverschlüsse` öffnen, um sich zu befreien“, erläutert Schimmel.

Vier Jahre im Wasser – und trocken

Wie wichtig die hydrophilen Härchen-Enden für die Stabilität des Luftkleides sind, wiesen die Wissenschaftler nach, in dem sie die Pflanze ein „bisschen ärgerten“ (Schimmel): Sie deckten die Haarspitzen mit einer hauchdünnen Schicht eines wasserabweisenden Materials ab. Infolgedessen konnte der Schwimmfarn die Luft nicht mehr festhalten. Im nächsten Schritt stellten sie eine künstliche Oberfläche nach dem Vorbild der Salvinia her und legten sie ins Wasser: „Heute, mehr als vier Jahre später, liegt sie dort noch immer – trocken“, freut sich Schimmel.
Das Luftkleid ist nicht zerrissen. Dieses Resultat ist weit mehr als eine nette akademische Spielerei, entstanden aus einer zufälligen Naturbeobachtung. Wilhelm Barthlott hatte bereits 1995 Industrie und Öffentlichkeit aufhorchen lassen, als er herausfand, warum Wasser und Schmutz an Lotusblumen-Blättern abperlen. Die Blätter bestehen aus einer hydrophoben Oberfläche mit winzigen, regelmäßig verteilten Noppen, auf denen der Dreck sitzt wie der Fakir auf einem Nagelbrett. Seitdem haben Unternehmen selbstreinigende Fassaden und Gläser entwickelt, die auf dem Lotus-Effekt basieren.
Dass der Salvinia-Effekt demgegenüber wirtschaftlich und ökologisch einmal noch bedeutsamer werden könnte, war Barthlott vom Bonner Nees-Institut für Biodiversität der Pflanzen und Thomas Schimmel von Anfang an klar. Denn der Salvinia-Effekt könnte gleich drei Probleme der Schifffahrt deutlich verringern: Fouling, Korrosion und Reibung. Ein Schiff, das im Wasser von einer dünnen Lufthülle umgeben ist, würde nicht von Algen und anderen im Wasser lebenden Mikroorganismen besiedelt. Dieses Mikrofouling, das die Reibung und somit den Treibstoffverbrauch erhöht, wird derzeit üblicherweise mit teuren und umweltgefährdenden Chemikalien bekämpft. Außerdem rostet Stahl an Luft langsamer als in Wasser, besonders als in aggressivem Salzwasser. Schließlich setzt Luft dem Schiffskörper weniger Widerstand entgegen als Wasser. Insofern würde ein Luftkleid à la Salvinia die Kosten für Treibstoff und Chemikalien verringern – ebenso wie den klimaschädlichen Kohlendioxid-Ausstoß. Daher haben Barthlott und Schimmel in den letzten Monaten Patente angemeldet und unter anderem an Verfahren gearbeitet, mit denen sich auch große Flächen mit Strukturen beschichten lassen, die den Salvinia-Effekt bewirken.

Drei Merkmale für das Neue

Doch was machen Salvinia-inspirierte Materialien zu einem typischen Vertreter des komplett Neuen, das Thomas Schimmel in der Werkstoffforschung ausgemacht hat? Eine Besonderheit ist sicher der Umstand, dass Forscher Prinzipien aus der Tier- und Pflanzenwelt auf technische Systeme übertragen haben. Doch die sogenannte Bionik hat zwar Erfolge vorzuweisen, deckt aber nur einen geringen Teil der Materialforschung ab.
Vielmehr sind es vor allem drei Merkmale, die das Neue charakterisieren:
•Konventionelle Materialien aus herkömmlichen Molekülen oder Atomkombinationen bekommen durch kontrollierte Strukturierung auf verschiedenen Längenskalen – Nanometer, Mikrometer, Millimeter – neue Eigenschaften und Funktionen.
• Eine vergleichsweise winzige Menge an Material – etwa eine wenige Moleküldurchmesser dicke Beschichtung auf einer Oberfläche – bewirkt bei einem Objekt eine große Eigenschaftsänderung. Das heißt zugleich: Es wird sehr effizient mit Rohstoffen umgegangen und auch vergleichsweise wenig Energie für die Materialherstellung verbraucht. Diese Effizienz ist ein großer Pluspunkt, wenn man angesichts endlicher Ressourcen daran denkt, dass auch unsere Enkel noch Rohstoffe benötigen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen.
• Eine sehr kleine Menge an Material ist entscheidend für die Funktionsweise von Geräten oder gar für eine Technologie. Somit erhält eine geringe Werkstoffmenge enorme wirtschaftliche Bedeutung.
Alle drei Punkte finden sich bei den Salvinia-inspirierten Materialien wieder. Zum einen sind da die Härchen, eine Strukturierung auf der Millimeter-Skala, und die Wachskristalle, eine Strukturierung auf der Nanoskala. Fachleute sprechen in diesem Fall auch von einer hierarchischen Strukturierung, weil erst das Zusammenspiel zwischen übergeordneter Struktur auf der größeren Längenskala und der untergeordneten Struktur auf der kleineren Längenskala die Funktion – hier das Festhalten der Luft – ermöglicht. Von ihrer chemischen Zusammensetzung her weist der Schwimmfarn dagegen keine Besonderheiten auf: Wie andere Pflanzen auch, bestehen er und seine Blätter vor allem aus den Elementen Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff. Die Materialien stellt der Schwimmfarn über die Photosynthese und andere natürliche Stoffwechselvorgänge her.
Zweitens – auch wenn das bei den Salvinia-inspirierten Stoffen noch Zukunftsmusik ist: Eine Beschichtung von wenigen Millimetern Dicke, die überdies noch größtenteils aus Luft besteht und entsprechend wenig Material für ihre Herstellung benötigt, könnte einmal Reibung und Treibstoffverbrauch eines Ozeanriesens mit einem Materialgewicht von 30 Millionen Kilogramm stark verringern.
Drittens: Selbstverständlich wäre neben der ökologischen auch die wirtschaftliche Bedeutung einer solchen Beschichtung immens. Ein Ozeanfrachtschiff beispielsweise verbraucht pro Tag rund 100 Tonnen Treibstoff. Angenommen, durch das Luftkleid könnten 20 Prozent davon eingespart werden – so würde jedes Frachtschiff täglich nach derzeitigen Marktpreisen rund 9000 Euro einsparen.
„In gewisser Hinsicht hängt die ganze Weltwirtschaft ab von kleinen Töpfchen funktionsbestimmender Materialien“, sagt Schimmel. Ein Beispiel dafür liefern die Smartphones, von denen 2013 weltweit mehr als eine Milliarde Exemplare verkauft wurden. Deren Touch-Displays enthalten das leitfähige und zugleich transparente Indium-Zinn-Oxid. Bezogen auf das Gesamtgewicht eines Handys beträgt der Indium-Anteil nur rund 0,002 Prozent. Doch ohne die maximal fünf Tonnen Indium, die für die Smartphone-Bildschirme weltweit benötigt werden, gäbe es die heutige Gerätegeneration nicht – und mit ihr wäre der gigantische Wachstumsmarkt der Apps und der IT-basierten Dienstleistungen nicht der, der er ist.

Wirtschaft und Alltag am Chip-Tropf

Ein anderes Beispiel sind Chips zur Datenspeicherung, deren Funktion letztlich von der Strukturierung einer Silizium-Oberfläche abhängt. Wenn diese Chips weltweit einmal per virtuellem Klick außer Betrieb gesetzt würden, so gingen nicht nur unsere Computerdaten verloren. Es gäbe zudem vielerorts ein Verkehrschaos, die Bankenwelt geriete durcheinander und es ginge sprichwörtlich das Licht aus, weil auch die Kraftwerke per Computer gesteuert werden.
Wie eine winzige Menge Material an der Oberfläche eines Gegenstandes dessen Eigenschaften bestimmt, zeigt sich unter anderem am Auto: Dass Werkstoffe nicht mehr rosten, dafür sind immer effektivere , aber auch immer dünner werdende Korrosionsschutzschichten verantwortlich. Dünne Beschichtungen auf dem Hausdach sorgen bei manchen Nullenergiegebäuden dafür, dass Sonnenlicht in Richtung der Photovoltaik-Anlage reflektiert wird.
Thomas Schimmel hat noch ein besonders drastisches Beispiel parat: „Ob ein Patient mit einer künstlichen Herzklappe überlebt, entscheidet sich ebenfalls an einer hauchdünnen Schicht – für das Blut sind die obersten zwei Moleküllagen der Klappe entscheidend. Aus welchem Material der Rest besteht, ist dem Blut weitgehend egal.“
Dass auch bei altbekannten Materialien noch völlig Neues zu entdecken ist, zeigt etwa das Element Silber – heute meist eingesetzt für Schmuck und als Kontaktmaterial in elektronischen Geräten. Seine antibakteriellen Eigenschaften sind zwar prinzipiell schon länger bekannt, doch erst in Form nanometergroßer Partikel oder hauchdünner Beschichtungen ist es für Wundauflagen, OP-Geräte oder Textilien attraktiv geworden. Mit Silber lassen sich aber auch winzige Bauteile für mögliche künftige Computer bauen, die mit Licht arbeiten. Fachleute sprechen dabei von plasmonischen Bauteilen: Plasmonen sind Wellen der Elektronendichte auf der Oberfläche von Metallen, die beispielsweise durch Licht angeregt werden können.
Schließlich haben die Karlsruher Wissenschaftler um Schimmel aus Silber auch den kleinsten Transistor der Welt hergestellt. Bei ihm wird ein elektrischer Strom zwischen zwei winzigen Kontakten durch die Umlagerung eines einzigen Atoms ein- und ausgeschaltet. Solch ein „Einzelatom-Transistor“ ist nicht nur winzig klein. Viel wichtiger ist, dass der Energieverbrauch eines solchen atomaren Transistors aus Silber nur ein zehntausendstel so groß ist wie der von herkömmlichen Siliziumtransistoren. „Das Periodensystem ist nicht größer geworden, doch die Möglichkeiten, es zu nutzen, wachsen Monat für Monat“, resümiert Schimmel.
Und der Markt für wertschöpfende Werkstoffe wächst auch – weitaus stärker als die Weltwirtschaft insgesamt. Das jedenfalls prophezeit das skandinavische Unternehmen Oxford Research in einer Studie, die es 2012 im Auftrag der Europäischen Union erstellt hat. Darin definieren die Analysten etwas schwammig: „Wertschöpfende Materialien sind fortschrittliche Materialen, die für das Wirtschaftswachstum und die industrielle Wettbewerbsfähigkeit strategisch wichtig sind – und die die großen Herausforderungen unserer Zeit ansprechen.“ Zu diesen Herausforderungen zählt es beispielsweise, die Menschheit sicher und klimaneutral mit Energie zu versorgen oder in einer älter werdenden Gesellschaft möglichst viele Menschen gesund zu erhalten. Um zu erläutern, wie „wertschöpfende Materialien“ von „neuen Materialien“ und „fortschrittlichen Materialien“ abzugrenzen sind, benötigen die Autoren der Studie rund acht DIN-A4-Seiten. Jedenfalls soll der Umsatz der wertschöpfenden Materialien von rund 100 Milliarden Euro im Jahr 2008 über 186 Milliarden Euro 2020 bis zu 1000 Milliarden im Jahr 2050 steigen.
Bei aller Begeisterung für das Neue in der Wissenschaft betont Thomas Schimmel auch, dass es in der Materialforschung häufig darum geht, Stoffeigenschaften und Herstellprozesse mit viel Mühe und Planung in kleinsten Schritten zu verbessern. Wie erfolgreich diese Herangehensweise sein kann, zeigt die ständige Weiterentwicklung in der konventionellen Halbleitertechnologie, auf der unsere heutige Informationstechnik beruht. Doch Schimmel ist überzeugt, dass Wissenschaftler auch Freiräume brauchen, in denen sie ungewöhnliche Ideen gebären und verfolgen können. „Wer mich fragt: Wussten Sie, dass mehr als 90 Prozent solcher Ideen nicht zum Erfolg führen?; dem könnte man antworten: Wussten Sie schon, dass nahezu 100 Prozent aller großen technologischen Durchbrüche nicht im Voraus geplant waren? Verbesserungen kann man planen, komplett neue Ideen und Konzepte aber brauchen Freiräume.“ Fördergelder, die dem Wissenschaftler diesen Freiraum lassen oder sogar verschaffen, seien besonders wertvoll.
Tatsächlich, sagt Schimmel, verbinde die Baden-Württemberg Stiftung ihre Förderzusagen mit einem Vertrauensvorschuss statt mit einem Misstrauensvorschuss. Und da die Ideen für ungewöhnliche Forschungsprojekte oft beim zwanglosen Gespräch zwischen Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen und verschiedenen Alters entstünden, sei es genau richtig, dass die Baden-Württemberg Stiftung auch Konferenzen und den wissenschaftlichen Austausch fördere. Eine dieser Tagungen findet jährlich in Bad Herrenalb statt. Dort treffen sich die Wissenschaftler des Kompetenznetzes Funktionelle Nanostrukturen. Nach dem Mittagessen oder der Kaffeepause bleiben dort immer wieder interessante Papierservietten zurück, beschrieben mit neuen Gedanken und Projektskizzen während spontaner Diskussionen. Auf so einer Tagung lernten sich auch der Karlsruher Physiker Schimmel und der Bonner Biologe Barthlott kennen – es war die Geburtsstunde der erfolgreichen Forschung am tropischen Schwimmfarn Salvinia molesta und seinen künftigen Anwendungen.
Dr. Frank Frick, Journalist für Chemie und Materialforschung

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