Die Luft zum Atmen

Mit Luft lässt sich Geld verdienen — mit angehaltenem Atem auch. Doch weil sich nicht alles auf der Welt nur um den schnöden Mammon dreht, zeigen wir Ihnen, dass Leben Luft braucht. Und dass ohne Leben die Erde von einer anderen Luft umhüllt würde.

Erschienen im: 3M magazin Dezember 1998.

Clara kann gar nicht genug bekommen: Jede Minute holt sie 40mal Luft. Von Clara können Michaela und Frank nicht genug bekommen: Schließlich ist ihre Tochter erst ein paar Stunden auf der Welt. Mutter Michaela atmet viel seltener als Clara – 15mal in der Minute. Trotzdem sind beide gesund: Die Atemfrequenz eines Menschen hängt eben von seinem Alter ab. 

20 000 Liter Luft täglich braucht der Mensch im Durchschnitt. Wer es schafft, vergleichsweise lange ohne Luft auszukommen, kann damit durchaus seinen Lebensunterhalt bestreiten: Malaysier etwa holen in über zwei Minuten Atemlosigkeit Perlen aus über 20 Metern Meerestiefe und die Menschen des Mittelmeerraumes tauchen nach Schwämmen, während sie die Luft anhalten.

Luft in Dosen

Allerdings läßt sich nicht nur ohne Luft, sondern auch mit ihr Geld verdienen. In den letzten Wochen, bevor die Briten ihre Kronkolonie Hongkong im Juli 1997 vertragsgemäß an China übergaben, kamen clevere Souvenirverkäufer auf die Idee, Luft in Dosen anzubieten – als letztes Stück Freiheit sozusagen.

Wenn Clara, Michaela und Frank atmen, tauscht ihr Körper Sauerstoff mit Kohlendioxid. Der Sauerstoffanteil der eingeatmeten Luft beträgt 21 Prozent. Die ausgeatmete Luft enthält dagegen nur rund 17 Prozent Sauerstoff, ist aber mit 4 Prozent Kohlendioxid angereichert. Ansonsten verändern Atemzüge die Luft nicht wesentlich: Wenn Stickstoff und Edelgase Lunge und Körper verlassen, ist ihr Anteil an der Luft gleich groß wie vorher.

Doch auf andere Weise kann der Mensch auch diese Bestandteile brauchen – Stickstoff beispielsweise in einer Menge von vielen Millionen Tonen jährlich. Denn mit seiner Hilfe werden Lebensmittel oder Medikamente verpackt und  elektrische Kabel gepreßt. Vor allem aber dient er als Schutzgas und als Kühlmittel.Um Stickstoff zu gewinnen, wird Luft zunächst verflüssigt und dann in ihre Bestandteile zerlegt.

Könnte die junge Familie einen Trip in die Vergangenheit unternehmen, dürfte sie keinesfalls weiter als rund 350 Millionen Jahre zurück reisen. Denn vor dieser Zeit enthielt die Lufthülle der Erde weniger Sauerstoff als heute – der moderne Mensch könnte da wohl nur mit mitgebrachter Preßluft kurzzeitig überleben.

Es war einmal: Atmosphäre ohne Sauerstoff

Vor 3,5 Milliarden Jahren gab es in der Atmosphäre wahrscheinlich gar keinen Sauerstoff. Und doch hatte die Erde zu diesem Zeitpunkt schon die ersten Bewohner: Bakterien, die in Abwesenheit von Sauerstoff existieren konnten und die sich von organischen Molekülen ernährten. Ihren Energie- und Kohlenstoffbedarf deckten sie durch Schwefelatmung oder durch Vergärung. Ohne diese urzeitlichen Mikroorganismen wäre die Luft heute nicht das, was sie ist. Denn einige unter den Bakterien entwickelten die Fähigkeit, unter Ausnutzung von Sonnenenergie chemische Verbindungen aufbauen zu können (Photosynthese). Als Abfallprodukt fiel bei diesem Prozeß Sauerstoff an. Zunächst wurde der freigesetzte Sauerstoff beispielsweise an Eisenionen sofort wieder gebunden. Doch vor etwa zwei Milliarden Jahren begann sich der Sauerstoff dann in der Atmosphäre anzusammeln.

Besonders gut kennen Wissenschaftler die Zusammensetzung der Atmosphäre in den letzten 200 000 Jahren. Der Grund: Es gibt heute noch Luft aus dieser Zeit. Zwar hat sie kein Frühmensch in Dosen eingepackt, doch Eis in Grönland und der Antarktis hat bei seiner Bildung winzige Luftbläschen eingeschlossen. Klimaforscher können diese Luft auspacken: Nachdem sie eine geeignete Eismasse ausgemacht haben, bohren sie einen eisigen Bohrkern heraus, der bis zu zwei Kilometer lang sein kann. Je tiefer ein Stück Eis unter der Erdoberfläche gelegen hat, umso älter ist es. Nachdem die Wissenschaftler den Bohrkern in gefrorenem Zustand in ein Labor gebracht haben, trennen sie einen Abschnitt des Eises ab, der einer bestimmten Altersperiode entspricht. Anschließend brechen sie das Eis in einer luftleeren Kammer auf und analysieren mit modernsten Geräten die freigesetzten Gase.

Bohrkerne erzählen Klimageschichte

Die atmosphärischen Aufzeichnungen im Eis reichen allerdings nicht beliebig weit in die Vergangenheit zurück: Die untersten Eisschichten wurden durch das Gewicht des über ihnen neu gebildeten Eises allmählich zusammengepreßt und zerflossen dabei in horizontaler Richtung. Die Geschichten, die solche Bohrkerne erzählen, berichten von häufigen Klimaänderungen und nicht über Stabilität. Warm- und Kaltzeiten wechselten sich ab und gleichzeitig veränderte sich die Zusammensetzung der Erdatmosphäre.

Untersuchungen über den natürlichen Wandel von Lufthülle und Klima in der Vergangenheit sind aktuell von großer Brisanz. Denn spätestens mit der industriellen Revolution Mitte des 18. Jahrhunderts begann der Mensch, Einfluß auf Luft und Klima zu nehmen. Wenn Wissenschaftler heute versuchen, das Ausmaß dieses Einflusses abzuschätzen, müssen sie möglichst viel über natürliche Klimaschwankungen wissen.

„Expertenkrieg ums Klima“ und „Greenhouse War“ titelten nahezu im Einklang letztes Jahr ein deutsches und ein englisches Wissenschaftsmagazin: Denn bis heute bestreiten einige – wenige – Experten  zumindestens einen Teil von dem, was die überwältigende Mehrheit der Fachwelt als erwiesen ansieht:

  • Die Konzentration sogenannter Treibhausgase in der Lufthülle steigt ständig an. (Das Treibhausgas Kohlendioxid beispielsweise ist eines der Hauptabfallprodukte der Stromerzeugung, von Verkehr, Industrie und Haushalt.)
  • Die Erde erwärmt sich.
  • Die momentane globale Erwärmung ist keine natürliche Klimaschwankung, wie es sie in der Vergangenheit gegeben hat.
  • Zur Erwärmung führt der höhere Anteil an Treibhausgasen in der Atmosphäre.

Welche Luft die Erde des Jahres 2075 umhüllen und welches Klima herrschen wird, versuchen Wissenschaftler mit Hilfe von Supercomputern vorherzusagen – Clara, das Baby, wäre dann 77 Jahre alt. Den gängigsten Prognosen zufolge würde  sie dann in einer Welt leben, die zwei Grad wärmer ist, in der der Meeresspiegel um mindestens 15 Zentimeter gestiegen ist und in der Dürren, Überschwemmungen und Stürme weit häufiger sind als heute.

Doch nicht nur der Streit um Kohlendioxid und Co. sorgt für Schlagzeilen. Die Auswirkungen eines anderen Stoffes in der Luft spüren die Menschen noch unmittelbarer: Gemeint ist das Ozon.

Die zwei Charaktere des Ozons

Mit diesem Gas verhält es sich wie mit Dr. Jekyll und Mr. Hyde: Es hat zwei „Charaktere“. In oberen Luftschichten – in der Höhe von 15-25 Kilometern – ist es „gut“ und filtert gefährliche UV-Anteile in den Sonnestrahlung weitgehend heraus. In Bodennähe dagegen ist es „böse“: Als sogenannter Sommersmog schädigt es in höheren Konzentrationen Pflanzen und gefährdet die Gesundheit von Tieren und Menschen. Ozon entsteht in Bodennähe, wenn Sonnenstrahlen auf Stickoxide und Kohlenwasserstoffe ­aus Autoabgasen und Schornsteinen treffen.

Doch auch mit dem guten Ozon in den oberen Luftschichten gibt es ein Problem: Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKWs) –beispielsweise aus Spraydosen und Kühlschränken – bauen es ab. Die Folge ist das „Ozonloch“, das erstmals 1985 beschrieben wurde. Die Ironie: Was Menschen verursachten, trat zunächst nicht dort auf, wo es Menschen gibt, sondern da, wo die Pinguine wohnen – über der Antarktis. Doch inzwischen nimmt das Ozon auch über der Nordhalbkugel ab. Weil dadurch mehr UV-Strahlung den Erdboden erreicht, erwarten Mediziner, daß in den nächsten Jahren auch in Europa die Zahl der Menschen mit Hautkrebs deutlich ansteigen wird.

Klimaforscher Prof. Paul Crutzen, Nobelpreisträger des Jahres 1995, ist jedoch überzeugt, daß sich das Ozonloch in etwa 50 Jahren weitgehend zurückgebildet haben wird – eine Folge der internationalen Regelungen zum FCKW-Ausstieg. Wenigstens was das betrifft, gibt es also gute Nachrichten für Clara. Wenn Menschen überall so konsequent gegensteuern wie im Falle des Ozonlochs, wird sie vielleicht in hohem Alter Worte aus Beethovens „Fidelio“ lauschen können, ohne zu widersprechen: „O welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben!“

Dr. Frank Frick, Journalist für Chemie und Umwelt

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